Das Experiment

Wir standen dicht gedrängt, in neutral-weissen Krankenhauskitteln zwischen den Maschinen. Aufseher teilten die Gruppen ein, achteten darauf, dass sich keiner zu weit entfernte. Aus der Gruppe C schickten sie sie bereits durch die Maschine. Stahlschienen, Glasplatten, Schläuche, schnappende Hydraulikventile, vollautomatische Förderbänder, sich unmittelbar an den menschlichen Körper anpassend. Soeben tauchte aus der sich in den Boden abgesenkten Fördereinheit ein weiterer Körper auf - es war der einer Frau. Ihr Gesicht war starr, die zerbrechlichen Gliedmassen in die Halterung des Trägerkokons, der auf den Schienen durch einen Keilriemen vorangetrieben heranschoss, eingespannt.
Manche bekamen viel Geld, manche waren krank, man hatte ihnen Heilung versprochen. Kredite. Abdeckungen monatelanger Krankenhausaufenthalte. Doch keiner hatte vermutlich die Verträge gelesen, die er unterschrieben hatte.

Ich war in Testgruppe A12 eingeteilt. Wir waren noch nicht bereit für die Maschine. Wir wurden zum Ende der Halle geführt, an dem sich eine Zeile von Schränken befand. Die letzte Gruppe musste bereits den Sektor verlassen haben, Arbeiter desinfizierten die Geräte im durch eine Glasscheibe abgetrennten Nebenraum, warfen ihre Gummihandschuhe in die bereitgestellten Container.
An einem der Schränke befand sich eine Notiz.
"Testperson D1443 V.S.: Kritische Körpertemperatur unterschritten. Exit 09:46". Der Schrank war plombiert.
Mich packte eine schreckliche Ahnung. Ich lief zu einem der Aufseher, bat ihn um Auskunft. Es sei das erste mal, dass so etwas passiert sei, sagte er, zuckte hilflos mit den Achseln.
Ich hätte weinen können, konnte aber nicht. Rote Lampen leuchteten über den Schränken auf, die keine waren - mit einem hydraulischen Zischen öffneten sich die Türen, gaben den Blick auf einen halboffenen, vertikalen engen Tank frei. Noch unter Schock wurde ich sanft, aber bestimmt in die Reihe zurückgebracht. Wir mussten uns umdrehen, um rückwärts in die Tanks einzutreten. Wie von fern hörte ich die Stimme des Arztes, der uns beruhigte, uns vermutlich die Prozedur erklärte, aber ich verstand die Worte nicht, ich verstand nicht, was mit mir geschah. V. war tot.

Der Himmel zeichnete ein blassrosa bis orangenes Wolkenfetzenmuster über dem Gebirge, linkerhand lag die Bucht, kreischend-kreisende Möven und faulige Andockpfähle vervollständigten die Hafenszenerie. Ferien in Schottland zu machen wäre nichts ungewöhnliches gewesen, aber diese Bucht war nichts für Partygänger oder Mallorcaurlauber. Finstere Gestalten, herumlungernde Fischer und einige abgemagerte struppige Katzen bevölkerten den Hafen. Für Frachtschiffe war es verboten, den westlichen Fjordarm zu durchkreuzen, aber schon fuhr der nächste Piratenschoner beladen mit Diebesgut und einer Unmenge an Seilen und Schnüren mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Sperrzone.
Ein Fischerjunge warf mir einen Fisch zu, ich warf einen Fisch zurück. Es war einer dieser Natriumthiosulfat-Wärmebeutel in Fischform - Knicken des implantierten Knackfrosches löste die Reaktion aus und Hitze wurde frei. Er kannte das Prinzip nicht, und bat mich, es ihm zu demonstrieren. In dem Moment, in dem die Reaktion begann - ich muss abgelenkt gewesen sein - spürte ich einen Stich am Hals. Wenige Sekunden später begann ich zu fallen. Ins Dunkel.

Die Türen schlossen sich. Der Zylindertank, in dem ich eingeschlossen war, bekann sich mit einem sanften Summen abzusenken. Ein Kältegefühl schlich mir die Füsse hoch, eine kaum merkliche bläuliche Beleuchtung liess mich noch die Milchigkeit der Flüssigkeit, in die wir eingetaucht wurden, erkennen. Dann nahm ich nur noch wahr, wie sich mein Herzschlag verlangsamte, meine Sinne erlahmten, der Schmerz verschwand, und eine absolute Gleichgültigkeit in Bezug auf Leben und Tod eintrat.

Grelles Licht drang in meine Augen, weckte meine Sinne. Ich spürte das warme Licht einer Infrarotlampe, Stimmfetzen drangen an mein Ohr, die Rückkehr meiner Sinne ankündigend. Es war ein Gefühl einer Geburt, viele Menschen kümmerten sich sich gleichzeitig und angenehm hektisch um mich, Spritzen, EEGs, man leuchtete mir mit grellem Blaulicht in die Augen, ich musste den Mund öffnen, Pillen schlucken, einfache "ja/nein"-Fragen beantworten. Ein Arzt schüttelte mir die Hand. Ich war noch benommen, aber begriff: Ich hatte den Test bestanden. Ich hatte überlebt.

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