Surreales
Nach der Führung ins Bergwerk wollten wir unbedingt noch die Burg besichtigen. Wir hatten ausserhalb der Stadt in einem Park an einem kleinen See genächtigt, es war eine warme Nacht gewesen. Der ehemalige Minenarbeiter erklärte uns in breitem Westfälisch, wo die Burg zu finden war. Der Komplex war riesig, aber grösstenteils verfallen. Es türmten sich gigantische, moosüberwachsene Quader, dazwischen schlängelten sich ausgetretene Pfade im Gras.
Hinter dem Burgareal erstreckte sich die Innenstadt. Was einst ein reiches Viertel gewesen sein musste, war nun heruntergekommen, in den dunklen Gassen strichen düstere Gestalten herum, die einem teils Drogen anboten, oder mit verzerrtem Gesicht und einer Spritze in der Hand verängstigte Passanten um einige wenige Euro erpressten - wenn man sie denn ernstnahm. Wir zogen zunächst unbeirrt durch eine der dunklen Gassen, dann aber wurden die Gestalten zunehmend aggressiver, betatschten uns, zahnlose Mäuler reckten sich uns entgegen, es war einfach nur grauenhaft. So waren wir froh, als sich plötzlich ein Kellereingang öffnete und uns eine adrett gekleidete Dame, die Vertrauen zu erwecken schien, winkte und uns Rettung vor dem Pöbel suggerierte.
Nach dem ersten Verschnaufen erreichte uns das Erstaunen: Der nach unten führende Gang war mit einer edlen, schwarzgoldenen Tapete ausgekleidet, es ertönte Musik, wir befanden uns offensichtlich in einem Club. Unzählige gut gekleidete Gäste strichen um uns herum, lachten, genossen Drinks und bunte Süssigkeiten, die auf den im ganzen Raum verteilten Stehtischen angeboten waren.
Nach einigem belanglosen Geplänkel mit unserer Retterin wurde die Unterhaltung etwas familiärer, man fragte interessiert nach unserer Herkunft, und zeigte uns proaktiv, was der Club so zu bieten hatte, inklusiv Prospekte von Wohnungen, Strandferien, Vehikeln... Offensichtlich alles sehr günstig, die schliessliche Frage nach dem Woher, Warum und Wie der Finanzierung blieb uns zunächst unklar, bis wir an einer Theke im hinteren Teil des Raumes angelangt waren.
Unsere nette Begleitung erklärte uns, dass jeder einen kleinen Mitgliederbeitrag entrichte, und sich mit einem Fingerabdruck registrieren lassen müsse. "Wir haben hier ein sehr modernes System", sagte sie, und deutete auf ein kleines schwarzes Gerät mit einem kleinen Glasfenster und einem Griff, der entfernt einem Pistolengriff ähnelte. Anstatt am Abzug lag ihr Finger auf einem kleinen roten Knopf, während Sie uns das Gerät fröhlich lächelnd entgegenhielt. Auf dem Display flimmerte eine geringe Summe, darunter ein kleiner scrollender Werbezug mit der Firmeninschrift.
Was dann geschah, ist der Grund dafür, dass ich mich bis heute nicht an den Firmennamen erinnern kann. Es hatte System.
Als ich meinen Finger auf das gläserne Auge hielt, ging alles blitzschnell:
es wurde schmerzhaft heiss, mein Finger leuchtete rot auf, und ich zog ihn reflexartig weg. Gerade noch nahm ich wahr, dass die Glasscheibe beiseite geschwenkt sein muss, und durch eine metallene Fläche mit der Struktur eines Mikrochips ersetzt worden war. Dann umfasste mich Dunkel, ich nahm nur noch blecherne Wortfetzen war. Unsäglicher Kopfschmerz verbreitete sich, nach wenigen Sekunden verliess mich das Bewusstsein.
Ich blickte in die Augen eines ausdruckslosen Gesichts, als ich wieder zu mir kam. Meine Sinne schienen eingeschränkt zu funktionieren, mein Sichtfeld glich dem eines Pferdes mit Scheuklappen. Der Mann sagte: Du musst nun in deine Wohnung.
Ich begriff, dass ich ihm gehorchen musste. Dass er für mich sorgte und mir Gutes tat, denn er war mein Freund. Ich folgte ihm, entlang einer Wand aus wabernden Vorhängen. Dann gebar mein Gehirn nur noch surreale Fetzen einer Sinnesreise, die Vorhänge wichen blutig getränkten Verbänden, ich schien, durch ein Loch in einer Wand aus Müll zu kriechen. Aus der Wand des Lochs ragten Spritzen und andere medizinische Gerätschaften, sie standen allerdings nach innen, so dass ich ohne Verletzung durch das Loch rutschte. Jegliche Versuche, sich rückwärts zu bewegen, wurden allerdings mit stechenden Schmerzen bestraft. Schliesslich gab mich der gigantische Darm aus Krankenhausabfällen frei. Ich konnte in dem sich vor mir öffnenden Raum gerade sitzen, vor mir ein mit Gitterstäben versehenes Fenster, das den Blick nach draussen freigab, und etwas Licht hereinliess.
Ich hatte keinerlei Erinnerung an irgendwelche Details, oder irgend eine Erklärung dafür, was meine momentane Situation betraf. Ich war auch kaum in der Lage nachzudenken, etwas hemmte meine Denkfähigkeit. Ich erinnerte mich nur noch an Kafkas Käfer, ein Gedanke, an dem ich mich derart festklammerte, dass ich schliesslich davon überzeugt war, ein Käfer zu sein, und mich auch so zu fühlen.
Die Zeit, die in diesem Verlies verstrich, konnte ich nicht messen. Ich habe keinerlei Erinnerung daran, wie ich ernährt wurde, verstand die Vorkommnisse des 'Draussen', das ich durch mein kleines Fenster wahrnehmen konnte, nicht, nur, dass sie sich im Laufe der Zeit änderte. Es hätten Jahre gewesen sein können.
Durch mein kleines Portal zur Aussenwelt zeigte sich mir fortwährend ein Ampelsystem. Automatisierte Fahrzeuge glitten auf vielen Ebenen, teils am Boden, teils an Drähten in der Luft voran, hielten sirrend an, entliessen Läufer. Die Läufer schienen mir insektoide Roboter zu sein, mit facettenartigen Sensoren, langen Gliedmassen. Ob diese Wahrnehmung durch mein geglaubtes Dasein als Käfer bedingt war? Ich weiss es nicht.
Nur, dass ich mich irgendwann freute, ein menschliches Gesicht zu erkennen.
Es waren vier oder fünf Frauen. Sie tauchten vor meinem Fenster auf, als sich das Design des Ampelsystems längst verändert hatte, auch die Läufer waren weniger geworden, wichen menschlichen Wesen.
Sie hätten hübsche Gesichter gehabt, wenn selbige nicht durch unzählige, grosse rötlich-klumpige Pickel verunstaltet gewesen wären. Durch meine vernebelten Sinne war ich gerade noch in der Lage, einfache Fragen zu verstehen, jedoch nicht zu antworten. Ich verstand, dass sie, aufgrund einer eigentlichen Krankheit, die eine gewisse Immunität gegenüber einem (mir unverständlichen) gewissen Sachverhalt bedingte, meine Situation wahrnehmen konnten. Ich begriff, dass dies die Einleitung zu einer Befreiungsaktion war.
So gab mich schliesslich der - vermutlich vor allem mentale - Kerker frei. Der Chip wurde mir entfernt, ich litt unter gelegentlicher Amnesie, jedoch kehrten nach und nach alle Erinnerungen zurück. Bei den nachfolgenden Untersuchungen war ich jedoch nicht sehr hilfreich, ich taugte weder als Zeuge, noch als Ankläger - nicht einmal einen Angeklagten hätte es geben können, der Ort, wie auch der Name des Clubs oder der Firma blieb in einem Erinnerungs-Tresor verrammelt.
Bis zu dem Tag, als es mir jäh im Kopf aufflammte: Die Burg. Die dunkle Gasse. Der Hauseingang. Die Burg war der eigentliche Schlüssel!
Ich informierte den Trupp. Irgendwo in den oberen Reihen der Leitung meiner Befreiungsgruppe wurde ein geheimer Plan ausgearbeitet. Ich durfte davon offensichtlich nichts wissen, da unbekannt war, inwieweit ich zuverlässig 'funktionieren' würde. Da kein Name, kein gar nichts bisher bekannt war, wusste man nicht, mit wem man es zu tun hatte.
Man stellte mir also nur eine Begleitung zur Verfügung. Wir starteten bei der Burg, die inzwischen weiter verfallen war, und arbeiteten uns langsam vor. Man liess mir unglaublich viel Zeit, meine Begleitung bewies eine Engelsgeduld, während ich mich immer wieder gemeinsam mit ihr verirrte, und wir zurück zum zuletzt bekannten Punkt spazierten.
Schliesslich schien die assoziative Taktik aufzugehen: Es war die Gasse, in der sich die Drogensüchtigen tummelten. Mit einem Mal war es alles wieder da, die schmutzigen Finger, die nach einem griffen, die gelallten Betteltiraden, der Gestank...
Die Rechnung ging auf. Es war genau derselbe Eingang. Wir gingen an den Tischen vorbei, man scharwenzelte um uns herum, überflutete uns mit Reizen. Die Spannung, unter der meine Begleitung stand, war zu spüren: Ich wurde intensiv beobachtet, keine Sekunde durfte ich aus den Augen gelassen werden, und dennoch durften unsere Gastgeber nichts davon mitbekommen. Ich war lange für diesen Moment vorbereitet, gar trainiert worden.
Ich warf aus Versehen eine Schale mit den Süssigkeiten um. Lange, gläserne, bunt gefärbte süsse Giraffen purzelten auf den Boden. Ich fluchte laut, brüskierte die Gäste. Die vermutlich durch Aerosole in der Luft sedierte Stimmung der Freudseligkeit, Eintracht und Gemeinsamkeit war unerwartet durchbrochen. Eine Ausnahmesituation für die Firma, man hätte nicht mit meinem Ausrasten gerechnet - so auch nicht mit Aktivkohlefiltern, die in meinen Nasenlöchern verborgen waren.
Meine Begleitung zog sich dezent zurück, als ich begann, in unbändiger Freude tobend, die Tische umzuwerfen und die hübschen Glaslampen an den mit Samt tapezierten Wänden zu zertrümmern. Es dauerte nur wenige Minuten, bis das Einsatzkommando eintraf.
Es war kein Versehen gewesen. Es war alles genau so abgelaufen wie geplant und ich hatte die volle Kontrolle über meine Gehirn wieder. Mein kontrolliertes Ausrasten, der Willen, das Inventar der Firma zu zerstören und gegen mein möglicherweise zu sehr gewaschenes Gehirn anzukämpfen, war genug des Beweises meiner Loyalität zu meinen Befreiern. Ich war restlos habilitiert. Fast restlos. Denn der Name der Firma ist, abgesehen von einer schemenhaften Vorstellung eines blau leuchtenden Firmenlogos, komplett aus meinem Hirn gelöscht worden.
goekel - 18. Apr, 17:03
Wir standen dicht gedrängt, in neutral-weissen Krankenhauskitteln zwischen den Maschinen. Aufseher teilten die Gruppen ein, achteten darauf, dass sich keiner zu weit entfernte. Aus der Gruppe C schickten sie sie bereits durch die Maschine. Stahlschienen, Glasplatten, Schläuche, schnappende Hydraulikventile, vollautomatische Förderbänder, sich unmittelbar an den menschlichen Körper anpassend. Soeben tauchte aus der sich in den Boden abgesenkten Fördereinheit ein weiterer Körper auf - es war der einer Frau. Ihr Gesicht war starr, die zerbrechlichen Gliedmassen in die Halterung des Trägerkokons, der auf den Schienen durch einen Keilriemen vorangetrieben heranschoss, eingespannt.
Manche bekamen viel Geld, manche waren krank, man hatte ihnen Heilung versprochen. Kredite. Abdeckungen monatelanger Krankenhausaufenthalte. Doch keiner hatte vermutlich die Verträge gelesen, die er unterschrieben hatte.
Ich war in Testgruppe A12 eingeteilt. Wir waren noch nicht bereit für die Maschine. Wir wurden zum Ende der Halle geführt, an dem sich eine Zeile von Schränken befand. Die letzte Gruppe musste bereits den Sektor verlassen haben, Arbeiter desinfizierten die Geräte im durch eine Glasscheibe abgetrennten Nebenraum, warfen ihre Gummihandschuhe in die bereitgestellten Container.
An einem der Schränke befand sich eine Notiz.
"Testperson D1443 V.S.: Kritische Körpertemperatur unterschritten. Exit 09:46". Der Schrank war plombiert.
Mich packte eine schreckliche Ahnung. Ich lief zu einem der Aufseher, bat ihn um Auskunft. Es sei das erste mal, dass so etwas passiert sei, sagte er, zuckte hilflos mit den Achseln.
Ich hätte weinen können, konnte aber nicht. Rote Lampen leuchteten über den Schränken auf, die keine waren - mit einem hydraulischen Zischen öffneten sich die Türen, gaben den Blick auf einen halboffenen, vertikalen engen Tank frei. Noch unter Schock wurde ich sanft, aber bestimmt in die Reihe zurückgebracht. Wir mussten uns umdrehen, um rückwärts in die Tanks einzutreten. Wie von fern hörte ich die Stimme des Arztes, der uns beruhigte, uns vermutlich die Prozedur erklärte, aber ich verstand die Worte nicht, ich verstand nicht, was mit mir geschah. V. war tot.
Der Himmel zeichnete ein blassrosa bis orangenes Wolkenfetzenmuster über dem Gebirge, linkerhand lag die Bucht, kreischend-kreisende Möven und faulige Andockpfähle vervollständigten die Hafenszenerie. Ferien in Schottland zu machen wäre nichts ungewöhnliches gewesen, aber diese Bucht war nichts für Partygänger oder Mallorcaurlauber. Finstere Gestalten, herumlungernde Fischer und einige abgemagerte struppige Katzen bevölkerten den Hafen. Für Frachtschiffe war es verboten, den westlichen Fjordarm zu durchkreuzen, aber schon fuhr der nächste Piratenschoner beladen mit Diebesgut und einer Unmenge an Seilen und Schnüren mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Sperrzone.
Ein Fischerjunge warf mir einen Fisch zu, ich warf einen Fisch zurück. Es war einer dieser Natriumthiosulfat-Wärmebeutel in Fischform - Knicken des implantierten Knackfrosches löste die Reaktion aus und Hitze wurde frei. Er kannte das Prinzip nicht, und bat mich, es ihm zu demonstrieren. In dem Moment, in dem die Reaktion begann - ich muss abgelenkt gewesen sein - spürte ich einen Stich am Hals. Wenige Sekunden später begann ich zu fallen. Ins Dunkel.
Die Türen schlossen sich. Der Zylindertank, in dem ich eingeschlossen war, bekann sich mit einem sanften Summen abzusenken. Ein Kältegefühl schlich mir die Füsse hoch, eine kaum merkliche bläuliche Beleuchtung liess mich noch die Milchigkeit der Flüssigkeit, in die wir eingetaucht wurden, erkennen. Dann nahm ich nur noch wahr, wie sich mein Herzschlag verlangsamte, meine Sinne erlahmten, der Schmerz verschwand, und eine absolute Gleichgültigkeit in Bezug auf Leben und Tod eintrat.
Grelles Licht drang in meine Augen, weckte meine Sinne. Ich spürte das warme Licht einer Infrarotlampe, Stimmfetzen drangen an mein Ohr, die Rückkehr meiner Sinne ankündigend. Es war ein Gefühl einer Geburt, viele Menschen kümmerten sich sich gleichzeitig und angenehm hektisch um mich, Spritzen, EEGs, man leuchtete mir mit grellem Blaulicht in die Augen, ich musste den Mund öffnen, Pillen schlucken, einfache "ja/nein"-Fragen beantworten. Ein Arzt schüttelte mir die Hand. Ich war noch benommen, aber begriff: Ich hatte den Test bestanden. Ich hatte überlebt.
goekel - 5. Mär, 11:22
Dienstag, 2. Januar 2007
Der Hafen - oder das, was davon übrig war - war komplett ausgestorben. An der Mole reihte sich Wrack an Wrack. Gigantische Kolosse, deren Brücke im Nebel verschwand. Die Strahlung war einigermassen erträglich, so liess ich es mir nicht nehmen, auf einen der kleinen Schoner älterer Bauart zu springen. Von dort aus gelangte ich ueber eine alte zerrissene Strickleiter auf einen kleineren Segler. Das Segel war längst demontiert, vermutlich von Plünderern. Alles was nicht niet- und nagelfest war...
Dahinter erhob sich direkt ein weiterer Frachter, mindestens drei Stockwerke höher. Ueber eine offensichtlich vor Ort spontan zurechtgezimmerte schwankende Leiter kletterte ich auf eine vorgelagerte Trägerplattform. Das gelbe H, welches den Landepunkt für die Senkrechtstarter markieren sollte, war von Säure und Rost zerfressen.
In der Brücke fand sich ein letzter Rest Leben. Oder besser: Energie. Die Batterien des Schiffs waren noch intakt, der 3-D-Radarschirm glühte noch schwach, an einigen Armaturen blinkten Leuchtdioden willkürlich vor sich hin, die Geräte schienen instabil.
Während ich die Lagerräume durchstöberte, vergass ich den regelmässigen Blick auf den Detektor. Das jähe Pfeifen der Strahlenwarnung unterbrach meine Zielstrebigkeit, in den Containerraum vorzudringen, um irgendwelche brauchbaren Gegenstände oder sogar Nahrungsmittel zu finden. Das Risiko war zu gross, ich kehrte um, und passierte das verrostete Schild mit der Aufschrift "Section 5". Die hermetische Tuer stand halb offen, dahinter erschien im fahl-diffusen Tageslicht eine zum Oberdeck führende Treppe.
Ich erschrak. Ich hatte die Leiche, die im rostigen Brackwasser lag, nicht gesehen. Ein ausdrucksloses, gut erhaltenes Gesicht, mit offenstehenden Augen. Der Kopf war kahl, eine grosse Narbe klaffte an der Hinterseite. Die Strahlung bot jeglicher Zersetzung Einhalt, wie auch der fortwährende Pfeifton der Warnung bestätigte. Es muss ein Plünderer gewesen sein, mit einer offensichtlich schlechteren Ausrüstung.
Ich nahm einige Konserven mit. Als ehemaliger Marinechemiker kannte man die Verstecke. Ich hatte nur mit Drogen gerechnet, doch befanden sich hinter der Abdeckung der Klimaeinheit auch einige Delikatessen, eingelegte Paprika, Thunfisch, Corned beef. Wie auch einige Phiolen L42. Man wusste nie, wozu man sie...
Gemäss der Strahlenkarte gab es ein passierbares Tal, etwa zwei Tagesreisen von der Stadt entfernt. Das Wasser-Reservoir am Berg war eingezeichnet, ich deckte mich mit etwa 10 Litern ein. Es schmeckte leicht metallisch, war jedoch kaum verstrahlt. Etwas besseres würde ich wohl nicht finden.
Was mich jedoch beunruhigte, war der Batteriestand meines Detektors. Das Solarpanel war bei der letzten Auseinandersetzung mit einer Plündererbande kaputtgegangen, ich haette einen Lötkolben benötigt, um es zu reparieren. Meine Hoffnung lag im unbekannten Land, welches mir auf der Karte als weisser Fleck mit einem ominösen roten Kreuz erschien. Es war offensichtlich umgeben von kaum passierbaren Gebirgen. Die Hauptpassage war markiert als grosse Einschlagsstelle, womöglich waren dort ganze Berge versetzt worden. Die Wucht der eingesetzten Bomben hätte das wohl bewerkstelligt, ich ging von einer erhöhten Strahlengefährdung aus. Doch ich musste das Risiko eingehen.
Tagelang wanderte ich durch kahles Wüstenland. Der Wind pfiff um rötliche Sandsteinsäulen, in der Ferne war geschmolzenes Gestein zu erkennen, von dem ich mich wohlweislich fernhielt und kritische Stellen mit Hilfe meines Detektors umrundete.
Der Inhalt meines Wasserkanisters ging zur Neige, als ich am 5. Tag die Passage erreicht haben musste. Kärgliches totes Gestrüpp säumte meinen Weg, der sich zunächst den Berg hochschlängelte und schliesslich im Unterholz schmächtiger, dicht gewachsener Bäume unterging. Nadeln kratzten an meinem Tornister, ich musste mich des öfteren bücken.
Der Geruch war charakteristisch. Ich hatte meinen Tornister während einer kleinen Pause in der Abenddämmerung gegen ein Gestrüpp gelehnt, ohne den Untergrund zu beachten. Als ich realisierte, was an meinem Rucksack klebte, hätte ich mich unter anderen Umständen länger als eine Zehntelsekunde geärgert - diesmal realisierte ich: Leben! Es war der Geruch von Erde, Pilzen, würzigem Gras.. ausgeschieden durch ein wildes Tier. Vermutlich Wildschwein. Der kleine Zwischenfall, der danach folgte, liess mich die halbe Nacht lang nicht richtig schlafen.
Der Gipfel konnte nicht weit sein, so trieb ich mich im Dunkeln voran. Das Rascheln im Unterholz liess mich stocken, die Geräusche sich nähernder, vielzähliger Füsse liessen meinen Nacken kribbeln. Ich hatte die Taschenlampe ausgeschaltet und stand stocksteif, bis das Getrappel und Geraschel sich entfernte. Aus Erzählungen meiner Grossmutter waren mir die Verhaltensweisen bekannt, doch ich wusste nicht, womit ich es zu tun hatte...
Es musste die Passage sein. Von weitem war das Gluckern eines Flusses zu hören, bis sich schliesslich das Blickfeld hinter dem Wald weitete. Seltsame, amorphe Felsformationen erhoben sich, gefrorene Schichten wölbten sich übereinander - gefroren? Ich war alarmiert und hielt den Detektor vor mich. Keine Gefahr. Ich näherte mich dem Fluss und betrat die glasigen Flächen. Vor lauter Faszination legte ich mich auf das Glas und betrachtete die Luftblasen, die langsam mit der Strömung wanderten. Ein Hitzestrom musste das Gestein geschmolzen haben, dass kaum Strahlung vorhanden war, war irritierend. Wie eine Eisschicht hatte sich die glasige Masse über den Fluss gelegt, hier und da faustgrosse Blasen geworfen, sich übereinander geschichtet wie zähflüssiger schwarzer Honig. Der Flussboden bestand grösstenteils aus schwarzen Sand, doch kleine grüne Flecken waren in der Tiefe wahrzunehmen. Chlorophyll.
Ich verbrachte einige faszinierende Stunden an der Passage, bis mich schliesslich die scheidenden Vorräte an mein eigentliches Ziel erinnerten.
Die kleine Siedlung erschien friedlich hinter einem Felskamm, dahinter erstreckte sich eine Talsohle bis zur etwa eine halbe Tagesreise entfernten Gebirgskette. Sie hatten mich von weit kommen sehen, und begrüssten mich freundlich. Verständigungsprobleme gab es keine. Der Bürgermeister wollte gleich wissen, worin ich gut sei. Verschiedene Menschen stellten mir hektisch Fragen, die ich sogleich ohne Nachdenken beantworten sollte. Nach einer kurzen Beratungspause rief mich der Bürgermeister zu sich und erklärte mir die Weise des hiesigen Zusammenlebens.
Es ging prinzipiell darum, dass jeder im Dorf eine gewisse Periode lang eine gewisse Funktion ausübte. Nach dieser Periode wurde erneut besetzt. Der Mechaniker wurde zum Polizisten, der Nahrungsmitteltechniker wurde für die Kartoffelfelder verantwortlich. Nur der Arzt hatte eine Sonderstellung inne, es gab ausserdem für jeden Funktionär einen Stellvertreter.
Das System funktionierte offensichtlich. Ich akzeptierte - und blieb. Als Chemiker, als Polizist, als Lehrer. Ich wäre noch weitere Perioden geblieben, aber nach etwa 500 Tagen in der Kommune ergriff mich die Unruhe.
Ich vermisste Mary. Es war an der Zeit, sie zu suchen.
goekel - 2. Jan, 21:15
Montag, 18. Dezember 2006
In der Stadt mit den roten Sandsteintreppen hatten wir nichts mehr verloren. Die Waechter waren auf der Suche nach uns - wir hatten nichts nennenswertes verbrochen, doch man war auf unser Wissen aufmerksam geworden. Den entscheidenden Hinweis bekamen wir von dem alten Lehrer, der uns jeweils Wasser brachte, im Austausch gegen Papier, das noch reichlich in Emels Blechkoffer vorhanden war.
Die Zelte waren abgebrochen, auf den Gepaecktraegern unserer Reiter verstaut. Emel startete zuerst, langsam erhob sich sein Reiter in den lichten Hoehennebel, dann folgte ich. Unter uns entfaltete sich das Gruenland in der Abendsonne, am Horizont blendeten gleissende Eiswolken. Allmaehlich verschmolzen die Linien der sich abstufenden Huegelzuege, die Daemmerung liess die Heckenformationen zwischen den Feldern verblassen. Violetttoene reflektierten sich an einigen Kondensstreifen, unmittelbar darauf schalteten wir die Positionslichter ein.
Wir verloren an Hoehe, als wir einen unbekannten Vorort ueberflogen. Der grelle Halo von Emels Scheinwerfer schwebte etwa Richtung 2 Uhr ueber mir, im schwachen Licht nahm ich gleichzeitig einige Gebaeude wahr. Mehrstoeckige Bauten, abgestufte Plateauebenen auf Saeulen, gegen oben verjuengt...die jeweiligen Stoecke waren offen, kaum Fenster, der Grundriss war von runder Geometrie, manchmal kreisrund, manchmal organisch. Die einzige Fremdbeleuchtung ruehrte von einigen wenigen Strassenlaternen her. Eine Menge Kabel waren zwischen den Gebaeuden gespannt, von schwarzen zentralen Masten ausgehend.
Waehrend ich mich darauf konzentrierte, den Reiter zwischen den Kabeln und Leitungen hindurch zu manoevrieren, verlor ich Emel und weiter an Hoehe. Mir blieb nichts uebrig, als auf der Landeplattform eines der Gebaeude abzusetzen, die Energie reichte fuer weiteren Auftrieb nicht aus.
Stille herrschte. Ich nahm kein Geraeusch, keinen Menschen wahr. Ebenso hatte offensichtlich niemand von meiner Landung Notiz genommen. Ich huschte an Gruenpflanzen vorbei, jede Ebene war gegen aussen von Bueschen und kleinen Bonsais eingesaeumt. Die jeweils von der naechsthoeheren Ebene um einige Meter ueberdachte, doppelt mannshohe Fassade bestand aus dunklem Glas. Ein Eingang war optisch nicht auszumachen, so trat ich irgendwann an das Glas heran um es abzusuchen. Nach einigem Tasten schwang sich ein Glaspaneel nahezu geraeuschlos zur Seite. Ich trat ein.
Brauner Kokosmattenboden, freundliches Licht. Die Innenseite mit wertvollem Holz fast nahtlos ausgekleidet. Ich ging den Gang entlang, und nahm ein Summen wahr. In der sich oeffnenden breiten Vertiefung des Holzpaneels war ein ellenbogenhoher Glastunnel eingelassen, durch welchen langsam ein schwarzer Kokon surrte. Der Gang endete an einer Tuer, noch etwa 30 Schritte entfernt, als Spotlichter sich allmaehlich erhellten und die sich oeffnende Tuer klar erleuchteten. Heraus trat ein Mann in einer braunen Moenchskutte. Er schien mir freundlich gesonnen, liess mich herankommen, und bedeutete mir mit einem kurzen 'Komm!', ihm zu folgen.
Wir folgten dem Korridor, der sich allmaehlich nach links bog und in eine riesige, sich vor uns absenkende Halle muendete, aehnlich eines Opernsaales. Sie muss etwa acht Etagen tief und weitere 2 Etagen hoch gewesen sein, in einer aehnlichen Treppenform abgestuft wie die Gebaeudekomplexe von aussen. Inmitten der Halle standen halbierte Saeulen, die vom Grund bis etwas ueber unsere Hoehe reichten. Auf den Saeulen stand jeweils ein Astronaut in einem dick gepackten weissen Anzug, der Helm war jedoch nicht rund, sondern aehnelte einer Keksdose mit schwarzem, leicht gerundetem Glasdeckel. Die Gesichter waren nicht sichtbar.
Sie standen nicht. Sie schwebten etwa 2 cm ueber der Saeule. Dies, und so manch anderes nahm ich wahr, waehrend mir der Moench - ich hatte seinen Namen vergessen - mir ihre Geschichte erklaerte. Manche Details an seiner Sprache verstand ich nicht, aber zu grossen Teilen aehnelte sie der unsrigen.
Ich fuehrte sie in die Geheimnisse der Levitation ein. Ich demonstrierte ihnen meinen Reiter, den sie mit grossem Interesse untersuchten. Ich stellte jedoch fest, dass mich die Energie in den folgenden Wochen verliess...irgendwann mal war mir mein Reiter nutzlos geworden. Ich fuehlte innerlich, dass mein Dasein in der Forschungseinheit bald beendet sein musste.
Sie hatten viel von mir gelernt, und waren aeusserst dankbar. Meinem Wunsch, mich aufs Land zu begeben, kamen sie entgegen. Man wies mir ein Haus zu, ich hatte jedoch keine Ahnung, was mich erwartete.
So wurde mein Reiter zusammen mit anderen Artefakten verwahrt, man verabschiedete sich in Dankbarkeit und sandte mich auf die Reise.
Eine atemberaubende Landschaft kuendigte sich in der Ferne an. Der Fluss wurde breiter, ein Plateau zeichnete sich ab, hinter dem sich offensichtlich ein gigantischer Wasserfall ergoss. Ein sanftes Brausen war zu hoeren, und ein Pferdekopf aus zerstiebendem Wasser wogte ueber der Kante.
Die Gondel senkte sich allmaehlich ab, der Landeplatz war deutlich zu erkennen. Eine Holzplattform, roh gezimmert, die auf einem kurzen Turm aufsass. Er nahm fast die ganze Flaeche des Felsen ein, der sich inmitten der brodelnden Gischt etwa 80 Meter erhob. Von diesem aus fuehrte die Bruecke zu den Pfahlbauten, die sich von Kalk-Kessel ueber einen Strudel nach dem andern zum naechsten Kessen spannten. Dazwischen spielten Kinder, schwommen in den von natuerlicher Hand gegrabenen Kesseln herum, schossen mit dem Wasser durch die Kalkmulden in den naechsten Kessel, um schlussendlich den Holzsteg zu erklettern und wieder von vorne zu beginnen.
Man fuehrte mich ueber Holzstege und Seilbruecken zu einem Haus inmitten eines grossen Strudels. Dort nahm mich der Dorfaelteste in Empfang, um mir eine Begleitung zuzuweisen. Es war seine Tochter.
Wir bezogen das Haus im Strudel und verloren jegliche Gedanken an das Aussenleben. Wir mussten uns um nichts kuemmern. Tagein, tagaus gab es nur die Wasserspiele, die warmen Baeder, die sanften rauschenden Klaenge, die im Innern des Hauses auf seltsame Weise zu einem Nichts verstummten. Ich wusste nicht mehr, wer ich frueher gewesen war, noch erinnerte ich mich an mein Wissen. Mein eigener Willen schrumpfte zu einem dekadenten Minimum, es gab nichts zu tun, viel zu essen, man las mir jeden Wunsch von den Lippen ab, nur Fragen nach dem Zuvor wurden mit einem hoeflichen Laecheln und einer ablenkenden Zuwendung beantwortet.
Sie war immer fuer mich da, scheuchte die Diener herum. Ich mochte sie wirklich, aber ich erinnere mich, dass mir die dauernden Liebkosungen und Zuwendungen frueher einmal unangenehm gewesen waeren. Es war jedoch angenehm, ihre Brueste auf mir zu spueren, wie sie sich nachts an mich kuschelte, mich des Tages ueber oft anlaechelte. Dass irgendetwas nicht haette stimmen koennen, vergass ich mit dem naechsten aufkeimenden Ansatz eines Gedankens. Ich hatte kein Langzeitgedaechtnis mehr.
"Wer ist Emel?"
Sie hatte mir nie Fragen gestellt, ich war etwas irritiert, es muss nachts gewesen sein..
"Ich weiss es nicht", antwortete ich nach langem Nachdenken. Ich wusste, dass ich es mal gewusst hatte, doch ich fand den Weg im Kornfeld der Gedanken nicht mehr. Wo frueher ausgetretene Pfade waren, war alles zugewachsen. "Ich weiss es nicht mehr".
Ich nahm mein langsames, dauerglueckliches Dahinvegetieren kaum wahr, und haette wohl mein komplettes Ich verloren, wenn nicht der Zwischenfall gewesen waere.
Es krachte. Aus dem Dachraum war ein Klirren von Tonscherben zu vernehmen, die Diener schliefen laengst, aus irgend einem Grund hatte mich ein ungewoehnlicher Harndrang nachts aus dem Bett getrieben. Ich schleppte mich die Treppe hinauf. Der Vollmond schien durch das Loch im Strohdach, etwas musste die Decke durchschlagen haben. Mehrere Tongefaesse waren zerschlagen, zu spaet realisierte ich den Schmerz einer Scherbe, die mir in den Fuss stach. Zu spaet? Der Begriff 'Schmerz' war mir in diesen Monaten unbegreiflich geworden. In den Scherben inmitten einer blutroten Fluessigkeit, es muss Wein gewesen sein, lag er.
Der arg zerdellte Aluminiumkoffer mit der Aufschrift: Emel/2703
goekel - 18. Dez, 20:46
Sonntag, 17. Dezember 2006
Am Strand war es ruhig. Leichter Bodennebel, fahles Sonnenlicht strich ueber den Sand. Verlorene Surfbretter lagen ungeordnet herum.
Vom Hotel fuehrte eine lange Steintreppe zum Steg, von dem aus die meisten Wassersportler starteten, wenn der Wellengang ungemuetlich wurde. Gegenueber des Stegs, der sich von der Treppe her kommend linkerhand befand, wand sich ein schmaler in den Kreidefelsen geschlagener Pfad zur weissen Hoehle. Dort hielfen sich oft die Rentner oder Liebespaerchen auf, da der Kreidefelsen allen Laerm vom Strand abschirmte und eine eigentuemliche Ruhe bot, auch bei hartem Wellengang war normalerweise nur das rhythmische Rauschen der gebrochenen Wellen zu hoeren.
Das Meer musste in hunderten von Jahren ein erstes Plateau aus der Hoehle herausgewaschen haben, das sich dann aufgrund eines womoeglich vulkanischen Ereignisses ueber den Meeresspiegel gehoben hatte. Nun war ein zweites Plateau im Begriff zu entstehen. Das Wasser stand gerade fussknoecheltief, der Untergrund bestand aus dem weissen feinen Sand.
Ich besass kein Surfbrett. Ich ging die Treppe hinunter und hielt erst einmal inne, da Mandarinenschalen auf der Treppe lagen. Daneben war etwas Plastikmuell versteut, den ich erst mal aufhob und in den Muellbehaelter warf. Er war leer, schien neu und bisher nie benutzt, da er glaenzte wie frisch polierter Stahl.
Der Wellengang war maessig, ich schwamm zunaechst im Wasser und fragte einen der im seichten Wasser duempelnden Jungen, ob er mir seinen Surfbaum ausborgte - ein grosses, geschliffenes flaches Stueck Holz. Nach einem kurzen Ritt auf den Wellen war ich der Sache muede und beschloss, weiter hinauszuschwimmen.
Jonas hatte mich gewarnt, dass das rote Meer fuer tueckische Stroemung bekannt waere. Ich hoerte nicht auf ihn, denn das Wasser war ruhig, kein Lueftchen zu spueren, und die Sonne warf ein diffuses langweiliges Licht durch den sich teilweise aufloesenden Nebel. Kein erkennbarer Grund fuer einen Wetterumschwung.
Nichtsdestotrotz hatte ich fuer alle Faelle mein Allzweckgeraet dabei - das Schweizer Taschenmesser fuer den Wassersport schlechthin. Es schloss unter anderem auch eine eingebaute Mobiltelefon-Einheit mit ein.
Die Warnung war berechtigt. Ploetzlich erfasste mich die Stroemung und der Strand war in wenigen Augenblicken in Ferne gerueckt. Mir war klar, dass Schwimmen nur den Verlust der letzten Kraefte bedeutet haette. So war klar, dass die einzige Alternative darin bestand, das gegenueberliegende Ufer zu erreichen, und zwar mit Hilfe des Landwindes.
Ich oeffnete mein Allzweckgeraet und entfaltete den Libellen-Lenkdrachen. Er besass eine kleine gelbe Segelflaeche mit einer Struktur aehnlich der eines Libellenfluegel. Der Wind griff ihn auf und zog mich langsam, aber stetig durchs Wasser in Richtung des anderen Ufers.
Man sagte mir, es sei Israel, in dem ich Land erreichte. Ich rollte den Lenkdrachen zusammen und hakte die Seilenden wieder sauber in die Haspeln des Allzweckgeraets ein. Israel hatte sich seit der letzten dokumentierten Reformation im Jahr 2014 stark veraendert.
Nach der Usurpation eines Grossteils des Jordanlands und dem anschliessend mysterioesen Aussterben des israelischen Volkes hatte sich eine Kultur entwickelt, die minimalistisch und ohne neuartige Technologien lebte, sich aber der jahrtausealten Baukunst verschrieben hatte. So irrte ich durch einen gigantischen Hybriden aus Schloss und Stadt und versuchte, inmitten der vornehmlich mit Handel beschaeftigen Menschenmenge Kontakt zu jemand aufzunehmen, der mir weiterhelfen konnte.
Man wies mir in Gebaerden einen Weg durch die Gruenflaechen, ich begriff, dass dort eine Konferenz von Wissenschaftlern aus verschiedenen Laendern stattfand.
Mein Blick streifte ploetzlich ein faszinierendes Objekt. Es handelte sich um einen Kunstbrunnen, dessen Wasserspiel sich fortlaufend aenderte, aber nicht nur das erweckte meine Aufmerksamkeit: Es waren besonders die bunten Fische, die einen irrwitzigen, im Minutenzyklus wiederkehrenden Reigen auffuehrten, als waere er einstudiert.
Ein breiter bronzener Hahn war die einzige Wasserzufuhr des Brunnens. Ein fast armdicker glaeserner Wasserstrahl stroemte daraus und erzeugte am Grund des Brunnens einen Strudel, in diesem ein Goldfisch mit einer akrobatischen Anmut Pirouetten drehte. Nach etwa einer Minute wurde der Goldfisch durch ein Quintett von kleinen blauen Fischen abgeloest, welches zur Kroenung seiner Performance den breiten Wasserstrahl der Stroemung entgegenschwomm, ein Fisch dicht hinter dem andern, bis sie schliesslich alle fast bewegungslos im Strahl verharrten und endlich seitwaerts nach links und rechts aus der Stroemung kippten. Ein faszinierendes Schauspiel.
Danach trat ein gelb/blau/weiss gestreifter Putzerfisch in Aktion,
indem er ueber den Brunnenrand sprang und mit seinen Flossen ballettartige Taenze auf dem Kiesboden darbot. Allerdings, da nicht in seinem natuerlichen Element, verschied er dabei und bot Anlass zu verschiedenen Mutmassungen. War die Performance geplant? Sollte alle paar Minuten ein Fisch auf diese Weise sterben? Oder war ihm ein Fehler unterlaufen?
Solche und aehnliche Gedanken liess ich mir durch den Kopf gehen, als ich in den Zeppelin stieg. Ich hoffte, wenige Stunden spaeter Jonas von meinen eigentuemlichen Beobachtungen berichten zu koennen. Leider funktionierte die Funkeinheit des Allzweckgeraets nicht mehr.
goekel - 17. Dez, 01:30
Samstag, 16. Dezember 2006
Ich streifte mit A. durch die Gassen, es war Winter, die Stadt war menschenleer und ausgestorben.
Der Buchladen an der Ecke war nicht besonders einladend, eigentlich war er von aussen kaum als Buchladen zu identifizieren. Er aehnelte eher einem Lesesaal, gebaut in einem puritanisch-amerikanischem Stil mit weissen, auf halber Hoehe angebrachten Vorhaengen. Aber eine willkommene Zuflucht vor der bissigen Kaelte.
Drinnen standen einige wenige Regale auf einem blanken Parkettboden. Am Tresen neben der Eingangstuer stand eine aeltliche freundliche Dame, die bereitwillig Auskunft gab, als ich nach Buechern mit mittelalterlichen Grafiken fragte. Okkulte Darstellungen. Ja, die seien vorhanden. Sie verwies uns nach unten, einen dunklen Gang entlang, an einer Statue mit eigentuemlicher Fratze vorbei, die in leicht gruenliches, diffuses Licht gehuellt war.
So erreichten wir den "interessanten" Teil des Ladens, der sich in einer ausgebauten Hoehle, bzw. Katakombe befand: Ein rundes, kuppelartiges Gewoelbe gliederte sich ans andere, eine Krypta undefinierbaren Ausmasses. Hier herrschte sehr viel Betrieb, Fackeln und Kerzen erleuchteten die Gewoelbe, im Hauptgewoelbe waren Pulte an der Wand angebracht, an denen etwa ein Dutzend Hexen stand und Buecher lasen. Eine der Hexen fiel dadurch auf, dass sie sich offensichtlich in einer Zeremonie befand und mit nacktem Oberkoerper vor einem Buch stand. Sie las laut, die Worte waren mir jedoch fremd.
Die Hexen waren sehr freundlich. Ich frage eine der Buecherspezialistinnen nach der gewissen Art Buecher. Sie brachte mir eines, ich legte es auf eins der Pulte, auf dem etwas Mehl und ein Teigstueck lag, achtete aber darauf, das Buch nicht zu beschmutzen. Ich blaetterte um, waehrend A. sich anderweitig umsah.
Das Buch enthielt seltsame, reliefartige Grafiken, etwas unheimlich anmutend. Wenn ich jeweils eine Seite oeffnete, formte sich die Grafik zum Relief, schloss ich das Buch wieder, schien es ziemlich duenn. Waehrend ich so blaetterte, geriet ich dummerweise mit dem Buch an das Teigstueck, welches an einer Seite kleben blieb. Ich versuchte, den Teig wegzuziehen, aber erfolglos. Er nahm die Form einer Frauenbrust an, und schien sich so der Seite anzupassen. Der Vorgang war mir peinlich, so ging ich mit dem veraenderten Buch zu einer der Buchhaendlerinnen um mich fuer die Beschaedigung zu entschuldigen und den Schaden zu kompensieren.
Ich hatte die passende Waehrung von 12 DM nicht dabei - das Buch erschien mir sehr billig - so bezahlte ich in Schweizer Franken, die Hexe ging inzwischen zur Kasse, um mir den genauen Wechselkurs zu berechnen. In der Zwischenzeit sah ich mich weiter um, betrachtete die Statuen in der Krypta und versuchte, den Sinn der seltsam anmutenden Artefakte, die teils auf Sockeln, teils hinter Glasvitrinen ausgestellt waren, zu ergruenden. Organisch geschwungene Hoelzer, Steinkoepfe, mumifizierte Krallen...alles nicht besonders furchteinfloessend. So fragte ich eine der Hexen, ob auch etwas eher okkultes Material vorhanden waere. Sie warf mir zunaechst einen hilflosen Blick zu, kramte einige Bilder unter der Theke hervor, und zuckte dann auf meine nicht allzugrosse Begeisterung hin die Achseln.
In der Zwischenzeit hatte sich, ohne dass ich es bemerkte, eine kleine Gruppe von Touristen um uns herum gebildet, die das Geschehen interessiert zu verfolgen schienen.
Ploetzlich erscholl die Durchsage: "Now, here comes THE SHOW!" Das Licht flackerte, die Fackeln erloschen fuer einige Sekunden, um einem kompletten Dunkel zu weichen. Dann erleuchtete die Krypta in einem fahlen Licht, etwas gruenlich, aehnelnd der Beleuchtung der Fratze am Eingang. Ploetzlich war die Hoehle bevoelkert mit einer Vielzahl von Hexen, kleinen schmaechtigen halbnackten Menschen, die Artefakte auf den Sockeln hatten sich in Figuren verwandelt, eine einzahnige Fratze blickte mir direkt ins Gesicht, und so insgesamt war alles etwas mehr nach meinem Geschmack. Ich gruselte mich wohlig.
Ich nahm nun die Quittung des Buches entgegen, packte das Buch in meine Ledertasche und griff im Getuemmel nach A.'s Hand, um den Laden nun zu verlassen. Wir gingen an der Fratze vorbei, um die Treppe empor zum Ausgang zu gelangen - doch da war keine Treppe mehr. Das Gewoelbe endete vor einer schwarzen Wand, der Eingang war verschlossen.
Etwas irritiert, aber nicht allzu nervoes, bewegten wir uns in die Krypta zurueck, um zu fragen, wie wir nach oben gelangen koennten. Da erscholl die naechste Durchsage: "And NOW, here comes the REAL show!". Im Nu war das Gewoelbe erfuellt mit weiteren Wesen, die Statuen bewegten sich, Tiere liefen umher, einige Touristen schrien hysterisch und liefen desorientiert durch die Seitengewoelbe, auf der Suche nach dem Ausgang. Sie hatten Angst.
Ich erkannte im Getuemmel die Hexe wieder, die zuvor mit nacktem Oberkoerper vor dem Buch gesessen hatte. Diesmal hatte sie eine gruene Bemalung im Gesicht und ein neglige-artiges Gewand an. Ein Zombie keuchte direkt neben mir, mir wurde die Sache zu bunt, ich bat die Hexe, mir den Ausgang zu zeigen.
Wir wurden ausgelacht, hinters Licht gefuehrt, man spielte ein garstiges Spiel mit uns, bewegten wir uns in eine Richtung, sprang eine grausige Statue von ihrem Sockeln und zeigte uns ihre Zaehne, erschreckte uns von hinten, oder eine unvermutete, nasse Pfote am Nacken sorgte dafuer, dass uns der Humor nach und nach abhanden kam.
"Walpurgisnacht", murmelte ich. Wann war nochmals Walpurgisnacht? Ich hatte in der Aufregung wohl A's Hand losgelassen. Eine Hexen-Weihnachtsfeier? Ich bekam Panik und quetschte mich, so gut es ging, durch die Herde von ghulischen Gestalten, die sich offensichtlich vor mir vergnuegte, dem noch unbekannten Ende der Krypta zu. Dort war ein Ausgang, es herrschte ein fahles winterliches Licht, es erschien im Freien, doch war es stets die Hoehle, deren Decke sich bloss weit nach oben erhob.
Es standen Bierbaenke zwischen verschneiten Gartenanlagen mit skurril anmutenden Rosengewaechsen..Rosengewaechse, aus denen Maeule und Haende sprossen. Gebisse, starre Augen..
Ich hetzte durch die Torboegen, auf der Suche nach A.
Haessliche Kinder rodelten einen kleinen Hugel hinunter, ueberall sah ich Frauen, die A von hinten aehnelten, doch packte ich sie am Arm und drehte sie um, antwortete mir ein haessliches Lachen, drehte sich mir ein zahnloser Mund zu, oder blickte mir ein Ziegenkopf entgegen.
Ich hatte genug. Ich packte einen der nahestehenden Maenner am Mantel und gab ihm zu erkennen, dass fuer mich der Spass definitiv vorueber sei. Ob er A. gesehen habe. Er grinste wissend, zeigte zum Ausgang, und entwand sich im selben Moment meinem Griff. Sein schwarzer Mantel begann sich eisig zu verfaerben, waehrend ich die Verfolgung aufnahm. Er lief mir durch die verwinkelten Rosengaerten davon, sprang ueber eine Pfuetze, um mich schliesslich auf einige wenige Meter herankommen zu lassen.
Dann trat er in die Pfuetze. Die Wassertropfen schossen mir entgegen, wurden zu spitzen Eiskristallen, und durchbohrten meine Haut. Es schmerzte immens, ich verlor fuer Bruchteile von Sekunden die Besinnung.
Als ich wieder Herr meiner Sinne war, war der Magier weg. Hinter mir im Rosenlabyrinth hatte sich eine Gruppe Ghule und Zombies zusammengeschart. Sie hatten offensichtlich ein Ziel. Mich zu...
Ich schlug die Tuer hinter mir zu. Es sah aus, wie in einer Tiefgarage. Nackte, gelb getuenchte Betonwaende, fahles Neonlicht. Die ghulische Menge war hinter mir her. Es galt, nach oben zu gelangen. Ausser Atem traf ich auf andere fluechtende Touristen. Wir endeten in einem Liftschacht, die Plattform war wie durch ein Wunder einsatzbereit auf Ebene Null. Es gab keine Kabine, nur ein altes aechzendes Stahlgeruest. Wir setzten den Lift in Bewegung, unendlich langsam und kreischend kroch die Plattform nach oben, der rettende Ausgang naeherte sich, waehrend unten die haessliche Meute keuchte und grunzte, lange magere Arme nach den letzten Menschen griffen, die hilflos an der Plattform baumelten und versuchten, sich nach oben zu ziehen, schmatzende krumme Gebisse sich in menschliches Fleisch schlugen und Stuecke herausrissen..
Der Ausgang, so er denn einer gewesen war, war zu einem schmalen Spalt zusammengewachsen, waehrend die Plattform nach oben aechzte und daran vorbeifuhr. Das Stahlgeruest kruemmte sich, rostige Streben rissen einige der Geretteten mit oder klemmten sie ein. Ich schlug hilflos auf den roten Knopf, um den Lift anzuhalten. Ploetzlich erscholl ein kakophonisch-lautes Gelaechter durch den gesamten Schacht. Die Plattform war verschwunden, ich sass auf einer Schaukel aus blauem Plastik, daneben eine hoelzerne. Wir waren erneut am Boden, und die Zombies hatten erneut ihr leichtes Spiel. Panisch griffen dutzende von Armen nach den Schaukeln, deren Seile sich mehr und mehr verhedderten.
Das letzte, an was ich mich noch erinnern konnte, war das Gesicht der Hexe in dem gruenen Neglige.
goekel - 16. Dez, 01:29