Flucht ins Neuland

In der Stadt mit den roten Sandsteintreppen hatten wir nichts mehr verloren. Die Waechter waren auf der Suche nach uns - wir hatten nichts nennenswertes verbrochen, doch man war auf unser Wissen aufmerksam geworden. Den entscheidenden Hinweis bekamen wir von dem alten Lehrer, der uns jeweils Wasser brachte, im Austausch gegen Papier, das noch reichlich in Emels Blechkoffer vorhanden war.

Die Zelte waren abgebrochen, auf den Gepaecktraegern unserer Reiter verstaut. Emel startete zuerst, langsam erhob sich sein Reiter in den lichten Hoehennebel, dann folgte ich. Unter uns entfaltete sich das Gruenland in der Abendsonne, am Horizont blendeten gleissende Eiswolken. Allmaehlich verschmolzen die Linien der sich abstufenden Huegelzuege, die Daemmerung liess die Heckenformationen zwischen den Feldern verblassen. Violetttoene reflektierten sich an einigen Kondensstreifen, unmittelbar darauf schalteten wir die Positionslichter ein.

Wir verloren an Hoehe, als wir einen unbekannten Vorort ueberflogen. Der grelle Halo von Emels Scheinwerfer schwebte etwa Richtung 2 Uhr ueber mir, im schwachen Licht nahm ich gleichzeitig einige Gebaeude wahr. Mehrstoeckige Bauten, abgestufte Plateauebenen auf Saeulen, gegen oben verjuengt...die jeweiligen Stoecke waren offen, kaum Fenster, der Grundriss war von runder Geometrie, manchmal kreisrund, manchmal organisch. Die einzige Fremdbeleuchtung ruehrte von einigen wenigen Strassenlaternen her. Eine Menge Kabel waren zwischen den Gebaeuden gespannt, von schwarzen zentralen Masten ausgehend.

Waehrend ich mich darauf konzentrierte, den Reiter zwischen den Kabeln und Leitungen hindurch zu manoevrieren, verlor ich Emel und weiter an Hoehe. Mir blieb nichts uebrig, als auf der Landeplattform eines der Gebaeude abzusetzen, die Energie reichte fuer weiteren Auftrieb nicht aus.

Stille herrschte. Ich nahm kein Geraeusch, keinen Menschen wahr. Ebenso hatte offensichtlich niemand von meiner Landung Notiz genommen. Ich huschte an Gruenpflanzen vorbei, jede Ebene war gegen aussen von Bueschen und kleinen Bonsais eingesaeumt. Die jeweils von der naechsthoeheren Ebene um einige Meter ueberdachte, doppelt mannshohe Fassade bestand aus dunklem Glas. Ein Eingang war optisch nicht auszumachen, so trat ich irgendwann an das Glas heran um es abzusuchen. Nach einigem Tasten schwang sich ein Glaspaneel nahezu geraeuschlos zur Seite. Ich trat ein.

Brauner Kokosmattenboden, freundliches Licht. Die Innenseite mit wertvollem Holz fast nahtlos ausgekleidet. Ich ging den Gang entlang, und nahm ein Summen wahr. In der sich oeffnenden breiten Vertiefung des Holzpaneels war ein ellenbogenhoher Glastunnel eingelassen, durch welchen langsam ein schwarzer Kokon surrte. Der Gang endete an einer Tuer, noch etwa 30 Schritte entfernt, als Spotlichter sich allmaehlich erhellten und die sich oeffnende Tuer klar erleuchteten. Heraus trat ein Mann in einer braunen Moenchskutte. Er schien mir freundlich gesonnen, liess mich herankommen, und bedeutete mir mit einem kurzen 'Komm!', ihm zu folgen.

Wir folgten dem Korridor, der sich allmaehlich nach links bog und in eine riesige, sich vor uns absenkende Halle muendete, aehnlich eines Opernsaales. Sie muss etwa acht Etagen tief und weitere 2 Etagen hoch gewesen sein, in einer aehnlichen Treppenform abgestuft wie die Gebaeudekomplexe von aussen. Inmitten der Halle standen halbierte Saeulen, die vom Grund bis etwas ueber unsere Hoehe reichten. Auf den Saeulen stand jeweils ein Astronaut in einem dick gepackten weissen Anzug, der Helm war jedoch nicht rund, sondern aehnelte einer Keksdose mit schwarzem, leicht gerundetem Glasdeckel. Die Gesichter waren nicht sichtbar.

Sie standen nicht. Sie schwebten etwa 2 cm ueber der Saeule. Dies, und so manch anderes nahm ich wahr, waehrend mir der Moench - ich hatte seinen Namen vergessen - mir ihre Geschichte erklaerte. Manche Details an seiner Sprache verstand ich nicht, aber zu grossen Teilen aehnelte sie der unsrigen.

Ich fuehrte sie in die Geheimnisse der Levitation ein. Ich demonstrierte ihnen meinen Reiter, den sie mit grossem Interesse untersuchten. Ich stellte jedoch fest, dass mich die Energie in den folgenden Wochen verliess...irgendwann mal war mir mein Reiter nutzlos geworden. Ich fuehlte innerlich, dass mein Dasein in der Forschungseinheit bald beendet sein musste.
Sie hatten viel von mir gelernt, und waren aeusserst dankbar. Meinem Wunsch, mich aufs Land zu begeben, kamen sie entgegen. Man wies mir ein Haus zu, ich hatte jedoch keine Ahnung, was mich erwartete.
So wurde mein Reiter zusammen mit anderen Artefakten verwahrt, man verabschiedete sich in Dankbarkeit und sandte mich auf die Reise.

Eine atemberaubende Landschaft kuendigte sich in der Ferne an. Der Fluss wurde breiter, ein Plateau zeichnete sich ab, hinter dem sich offensichtlich ein gigantischer Wasserfall ergoss. Ein sanftes Brausen war zu hoeren, und ein Pferdekopf aus zerstiebendem Wasser wogte ueber der Kante.

Die Gondel senkte sich allmaehlich ab, der Landeplatz war deutlich zu erkennen. Eine Holzplattform, roh gezimmert, die auf einem kurzen Turm aufsass. Er nahm fast die ganze Flaeche des Felsen ein, der sich inmitten der brodelnden Gischt etwa 80 Meter erhob. Von diesem aus fuehrte die Bruecke zu den Pfahlbauten, die sich von Kalk-Kessel ueber einen Strudel nach dem andern zum naechsten Kessen spannten. Dazwischen spielten Kinder, schwommen in den von natuerlicher Hand gegrabenen Kesseln herum, schossen mit dem Wasser durch die Kalkmulden in den naechsten Kessel, um schlussendlich den Holzsteg zu erklettern und wieder von vorne zu beginnen.

Man fuehrte mich ueber Holzstege und Seilbruecken zu einem Haus inmitten eines grossen Strudels. Dort nahm mich der Dorfaelteste in Empfang, um mir eine Begleitung zuzuweisen. Es war seine Tochter.

Wir bezogen das Haus im Strudel und verloren jegliche Gedanken an das Aussenleben. Wir mussten uns um nichts kuemmern. Tagein, tagaus gab es nur die Wasserspiele, die warmen Baeder, die sanften rauschenden Klaenge, die im Innern des Hauses auf seltsame Weise zu einem Nichts verstummten. Ich wusste nicht mehr, wer ich frueher gewesen war, noch erinnerte ich mich an mein Wissen. Mein eigener Willen schrumpfte zu einem dekadenten Minimum, es gab nichts zu tun, viel zu essen, man las mir jeden Wunsch von den Lippen ab, nur Fragen nach dem Zuvor wurden mit einem hoeflichen Laecheln und einer ablenkenden Zuwendung beantwortet.
Sie war immer fuer mich da, scheuchte die Diener herum. Ich mochte sie wirklich, aber ich erinnere mich, dass mir die dauernden Liebkosungen und Zuwendungen frueher einmal unangenehm gewesen waeren. Es war jedoch angenehm, ihre Brueste auf mir zu spueren, wie sie sich nachts an mich kuschelte, mich des Tages ueber oft anlaechelte. Dass irgendetwas nicht haette stimmen koennen, vergass ich mit dem naechsten aufkeimenden Ansatz eines Gedankens. Ich hatte kein Langzeitgedaechtnis mehr.

"Wer ist Emel?"
Sie hatte mir nie Fragen gestellt, ich war etwas irritiert, es muss nachts gewesen sein..
"Ich weiss es nicht", antwortete ich nach langem Nachdenken. Ich wusste, dass ich es mal gewusst hatte, doch ich fand den Weg im Kornfeld der Gedanken nicht mehr. Wo frueher ausgetretene Pfade waren, war alles zugewachsen. "Ich weiss es nicht mehr".

Ich nahm mein langsames, dauerglueckliches Dahinvegetieren kaum wahr, und haette wohl mein komplettes Ich verloren, wenn nicht der Zwischenfall gewesen waere.

Es krachte. Aus dem Dachraum war ein Klirren von Tonscherben zu vernehmen, die Diener schliefen laengst, aus irgend einem Grund hatte mich ein ungewoehnlicher Harndrang nachts aus dem Bett getrieben. Ich schleppte mich die Treppe hinauf. Der Vollmond schien durch das Loch im Strohdach, etwas musste die Decke durchschlagen haben. Mehrere Tongefaesse waren zerschlagen, zu spaet realisierte ich den Schmerz einer Scherbe, die mir in den Fuss stach. Zu spaet? Der Begriff 'Schmerz' war mir in diesen Monaten unbegreiflich geworden. In den Scherben inmitten einer blutroten Fluessigkeit, es muss Wein gewesen sein, lag er.
Der arg zerdellte Aluminiumkoffer mit der Aufschrift: Emel/2703

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